“Bloody” Phil und der Choro-Trek
Silke | 2. Oktober 2011 | 20:54Nachdem wir in Villa Fátima bei der vierten Buskooperative endlich Glück hatten und einen Bus Richtung “La Cumbre” gefunden haben, der “fast gleich” abfährt, sinke ich verschlafen in meinem Sitz zusammen. Um sechs aufstehen gehört trotz Trekking- und Bergbegeisterung immer noch nicht zu den Dingen, die oben auf meiner “Mach-ich-gern”-Liste landen würden. Nach einer knappen Stunden spuckt der Bus uns und eine Handvoll Locals auf dem windigen, kalten “La Cumbre” aus. Die Straße biegt hier kurz vor dem Pass auf 4700m Höhe ab und lässt uns zwischen steinigen, überreiften Hängen zurück.
Wir verstauen den Kleinkram in den Rucksäcken und folgen dem Einschnitt zwischen zwei Bergen. Ein Pfad windet sich zwischen zwei Lagunen hindurch auf die Passhöhe von 4958 hm hinauf. Wir schnaufen mit unserem Trekkinggepäck abschnittsweise immer höher, rechts und links sind Abfahrtsspuren von MTBs zu sehen (hier startet auch die Abfahrt auf der Death Road, die wir uns aber sparen), ein peruanisches Pärchen treibt seinen PKW auf dem Schotter verzweifelt höher, um dann irgendwann anzuhalten und die Aussicht zu genießen.
Mit selbiger ist es aber bald vorbei. Nebel zieht auf und ein eisiger Wind pfeift uns um die Nasen. Wir rüsten noch die Windbreaker und Mützen nach und machen uns an den Abstieg. Beim Abstieg wird es (bis auf einige Ausnahmen gegen Ende des zweiten und am dritten Tag) auch bleiben. Der “Choro” ist quasi ein Downhill-Trek. Er benutzt eine präkolumbianische Verbindungsstraße, die von der Passhöhe in die Yungas, in den Urwald führt. Insgesamt 4000 Höhenmeter bergab. So ganz realisieren, was das bedeutet, tun wir allerdings erst unterwegs. Das dann jedoch umso schmerzvoller. Der Trek ist alles, aber kein Vergnügen. Obwohl die Landschaft reizvoll ist (der Start zwischen verschneiten Hängen im Nebelgewaber)und sich allmählich verändert, je tiefer man kommt (zunächst in karge, nur von Gras bewachsene Hänge, auf welchen Lamas weiden, dazwischen vereinzelte Ruinen von aufgegebenen Häusern und dann gegen Ende des ersten Tages auf einmal die ersten Sträucher und Bäume, die Luft wird wärmer und feuchter), wiegt es nicht auf, dass der Untergrund richtig sch*** zu gehen ist. 2000 Höhenmeter Abstieg auf einem Pfad mit rutschigen runden Steinen sind echt kein Zuckerschlecken. Nach kurzer Zeit schmerzen Fußsohlen und Knie. Die Landschaft genießen können wir auch nur, wenn wir stehen bleiben, da man den Blick ständig auf den Boden richten muss. Trotzdem falle ich zweimal hin (obwohl trocken, sind die Oberflächen seifig wie abgespeckte 5-er Kletterrouten im Ith), nach einer Weile lässt die Konzentration einfach nach und die Strecke verzeiht nichts. Mit dem Bluterguss am Schienbein kann ich leben, aber der Spaßfaktor ist dahin. Nach einer Weile treffen wir “Bloody Phillip”, den wir schnell so nennen, da er (Australier, gestandene 70 Jahre alt, allein unterwegs mit 18-kg-Rucksack, Lederhalbschuhen und ausschließlich Chinasuppen und Keksen als Trailfood bewaffnet) in umwerfend unverständlichem Aussie-Dialekt auf uns einredet und dabei in einem Satz mindestens 5x “bloody” sagt (sein zweitliebstes Wort ist “Jesus Christ”) gerne in Kombination mit “Trail, Weather, Sun, Mosquitos, Hell, Stones, Jesus” usw. Ansonsten rennt der “Trekking-Opa” uns jedoch beneidenswert fit voraus oder hinterdrein, je nach Startzeit in den folgenden drei Tagen, lässt aber nie großen Anstand aufkommen, was uns mutmaßen lässt, dass er bestimmt mal Leistungssportler war. Zu unserer Enttäuschung hat er aber bis vor 20 Jahren geraucht und war Tischler.
Aber gut. Wir nehmen uns vor, in 40 Jahren auch so fit zu sein und versuchen etwas weniger lautstark zu leiden. Trotzdem: wer zum Henker ist auf die “Bloody” Idee gekommen einen ganzen Trail bergab festzulegen und dann noch auf einer Steinstraße quer durch Berge und Dschungel? So was bin ich im Leben noch nicht gelaufen – weder in Nepal, noch in den Alpen oder in Spanien – zur HÖLLE!
Mit dem zweiten Tag wird es deutlich wärmer, die Vegetation wird üppiger und die Luft feuchter. Damit bekommen wir zusätzliche Wegbegleitung. Horden von fetten, schwarzen Pferdebremsen, die uns (mich) auffressen, sobald wir stehen bleiben, obwohl wir uns flächendeckend mit 40%-igem DEET-Repellent einschmieren. Die Viecher stört das leider kaum und da ich die Tochter meines Vaters bin, habe ich bald fette rote Flatschen an den Beinen. Unser kniescheibenzermürbendes Bergabgeholpere wird zum Glück durch kleine wilde Erdbeerplantagen am Wegrand aufgeheitert. Und so überbieten wir uns in gegenseitigem Gefüttere mit den kleinen roten Dingern – sozusagen als Entschädigung und zum Trost. Unterwegs machen wir dann an einer Hütte Rast und schmunzeln über die Findigkeit der Bewohnen: in Ermangelung von teuren Scharnieren wurden halt einfach die Gummisohlen von Sandalen verwendet. Not macht erfinderisch. Das gilt scheinbar immer noch.
Immer wieder laufen wir durch Wolken von kleinen rotschwarzen und blauen Schmetterlingen, die in Trauben mitten auf dem Weg hocken und erst wegflattern, wenn wir fast auf sie drauftreten. Abends schlagen wir in “San Francisco” unser Zelt auf. Kaum haben wir die Spaghetti im Topf ziehen allerdings dichte Wolken auf und über den uns umgebenden Gipfeln fängt es an zu donnern und zu blitzen. Wir ziehen also unser Leihzelt um, unter ein grasgedecktes Vordach, da wir seiner Regendichtigkeit nicht so richtig über den Weg trauen.
Am dritten Tag brennt der Planet. Es ist schon beim Aufstehen warm und nach ein zwei Sonnenstunden glüht der Pfad überall, wo kein Schatten ist, dermaßen, dass man das Gefühl hat, durch einen Backofen zu marschieren. Um uns herum ist jetzt richtig Urwald, zweimal sehe ich eine Schlange vor mir vom sonnenbeschienen Pfad schnell im Unterholz verschwinden, und im Geäst der Bäume hüpfen zeitweilig wieder die schwarzgelben Oropendulas herum. Der Trail steigt heute im Wechsel auf und ab, was deutlich angenehmer ist, als nur bergrunter, aber unsere Leidensgrenze ist überschritten. Als wir nach sieben Stunden Fußmarsch in Choiro, dem Ende des Trail ankommen, begehen wir leichten Herzens die Konsumsünde und kaufen uns erstmal eine kalte Cola.
Allerdings will die Tienda-Frau für einen Taxi-Service nach Choroico geschlagene 150 Bolivianos, unser Angebot ist ihr zu schlecht. Also packen wir die Rucksäcke und marschieren aus dem Kaff heraus Richtung Choroico. Da im Ort aber gerade an der Flußbefestigung gebaut wird, kommt von hinten bald ein leerer Kipplaster mit Kiesresten auf der Ladefläche hinter uns her. Stephan hält diesen kurzerhand an und erspart uns so einige anstrengende Kilometer Fußmarsch wieder bergauf. Haarscharf an den Felswänden entlangschrammend rumpelt der LKW mit uns und “Bloody” Phil auf der leeren Ladefläche bis zur Abzweigung auf die neue Straße nach La Paz bei Yolosita hoch. Als der Laster dort hält, will der Fahrer nicht einmal ein Trinkgeld – auch mal eine nette (und seltene) Erfahrung. Dort können wir nach kurzer Zeit zusammen mit einer weiteren Frau in die Fahrerkabine eines nach La Paz fahrenden LKW krabbeln (die Rucksäcke fahren zwischen den Stahlstreben auf der Ladefläche mit). Die “neue” Straße, die als Umgehung für die alte “Death Road” eingerichtet wurde, ist allerdings nicht weniger spektakulär. Immer wieder ist der Asphalt unterbrochen von Schotter oder Steinpassagen, links oder rechts fällt der Abgrund jäh hinab und in den zwei Tunneln haben die Autofahrer nur teilweise Licht an. Unser Trucker fährt einen heißen Reifen, von seiner “Schnibbel”-Technik könnte selbst mein Vater noch lernen (Gruß&Kuß) und in knapp zwei Stunden sind wir wieder in der Stadt. Dort beziehen wir unser altes Hostel-Zimmer, duschen und gönnen uns dann den Luxus eines zweiten Steak-House-Besuches.
Meine Schwester und ich haben auf unserem Hike durch den kanadischen Killarney-Park auch so einen Rennopa getroffen, der uns fröhlich erzählte, dass er die Tour schon zum zweiten Mal macht, diesmal allein, weil seine Frau keine Lust habe und zwar in sechs Tagen (zwei weniger als wir). Wir kamen uns danach ein bisschen lahmarschig vor und haben uns vorgenommen, im selben Alter noch so fit zu sein wie er. 🙂
Eure Choro Trek-Beschreibung ist ja Abenteuer pur; gut dass ihr nach den halsbrecherischen Pisten zu Fuß als auch per Auto wieder heil gelandet seid. Wenn euch das nur annährend auf der „Autoroute“ so gegangen ist, wie ich es schon mal im Fernsehen von einer Berichterstattung gesehen habe, dann wird mir im Nachhinein noch Angst und Bange, auch wenn dein „Schnibbelvater“ in seiner Fahrtechnik auch kein Kind von Traurigkeit ist!
Außerdem hast du rückwirkend noch das volle Mitgefühl von mir wegen der Pferdebremsen.
Bei unserer Radtour durch den Müritznationalpark gab es ganze 2 Pferdebremsen-aber die haben mich gestochen und ich sah aus wie das Teufelchen.